Polyphonie: Die Anfänge der Mehrstimmigkeit

Polyphonie: Die Anfänge der Mehrstimmigkeit
Polyphonie: Die Anfänge der Mehrstimmigkeit
 
Gegenüber der einstimmigen Musik des Mittelalters bildet die Mehrstimmigkeit eine neue und prinzipiell andersartige Kunstform, auch wenn sie in enger Anlehnung an den einstimmigen Gregorianischen Choral entstand und noch jahrhundertelang an ihn gebunden blieb. Der Beginn mehrstimmigen Singens im 9. Jahrhundert war daher ein Ereignis von einzigartiger musikgeschichtlicher Bedeutung. Denn aus diesen ersten Ansätzen hat sich über einen Zeitraum von über tausend Jahren hin alles das entwickelt, was den Rang und den Reichtum der europäischen Kunstmusik ausmacht. Andere Kulturen haben ebenfalls differenzierte Musiksprachen hervorgebracht, die nicht selten sogar Bereiche öffnen, die den abendländischen Ausdrucksformen verschlossen bleiben. Der europäische Hörer aber, der Aufschluss über seine eigene Kulturtradition sucht, wird mit besonderer Faszination auf eine geschichtliche Phase blicken, die den Keim dessen sichtbar macht, was er seitdem als seine Musik ansieht. Darüber hinaus werden in dieser Phase beginnender Mehrstimmigkeit die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Musik eine ihr bislang unzugängliche artifizielle Qualität erhält, indem sich das ursprünglich flüchtige Klangphänomen zum musikalischen Kunstwerk objektiviert.
 
Dies macht die Einzigartigkeit europäischer Musik aus und in dieser Einzigartigkeit unterscheidet sie sich von allen anderen Künsten. Bauwerke, Skulpturen, Gedichte oder Erzählungen aus aller Welt mögen von anderen noch so verschiedenartig sein, als Bauwerke, Skulpturen und so weiter sind sie in einem allgemeinen Sinne untereinander vergleichbar. Das gilt nicht für die Musik. Als Mehrstimmigkeit ist sie ein spezifisch europäisches Ereignis und verdankt ihre Entstehung politischen und kulturgeschichtlichen Gegebenheiten des Mittelalters gegen Ende des ersten Jahrtausends. Dazu gehören unter anderem
 
- die Festigung des Frankenreichs,
 
- die Christianisierung des Nordens,
 
- die Begegnung germanischer Klanglichkeit mit einer linearen mediterranen Gesangskultur,
 
- die Tradition griechischer Musiktheorie in Verbindung mit einem neuen Sinn für musikalische Praxis,
 
- Erinnerungen an spätantike römische Festmusiken mit Beteiligung vieler Instrumente,
 
- ein Usus paralleler Stimmenverdopplung in Quarten und Quinten, »Paraphonia« genannt, wie er für die päpstliche Kapelle des 7. und 8. Jahrhunderts bezeugt ist.
 
Nur aus dem Miteinander aller dieser bereitliegenden Momente konnte artifizielle Mehrstimmigkeit entstehen. Gemeint ist damit mehr als ein gleichzeitiges Erklingen verschiedener Töne, denn dies ist auch - auf ganz unterschiedliche Weise - ein Kennzeichen der Musik anderer Kulturen. Gemeint ist Mehrstimmigkeit in dem Sinne, dass jede der beteiligten Stimmen eines musikalischen Werkes vom Komponisten als etwas Selbstständiges gesetzt wird und diese Selbstständigkeit zugleich als Teil eines gemeinsamen polyphonen Ganzen fungiert.
 
Zu beobachten ist etwas derartiges erstmalig, wenngleich zunächst sehr unscheinbar und anfänglich, bei einer Satztechnik, die die mittelalterliche Musiklehre nach griechischem Vorbild »Diaphonia« (= Auseinanderklang) oder mit einem eigenen neuen Terminus »Organum« (= Werkzeug, = Musikinstrument) nennt. Eine im späten 9. Jahrhundert entstandene und weit verbreitete Schrift mit dem Titel »Musica enchiriades« (etwa = Musikalisches Handbuch) beschreibt neben vielen anderen Lehrgegenständen dieses Organum als eine Technik einfacher Mehrstimmigkeit in zweierlei Formen. Bei der ersten Form, dem »Quintorganum«, wird unter eine Hauptstimme (»vox principalis«) eine Zusatzstimme (»vox organalis«) im Abstand einer Quinte gesetzt. Da hier beide Stimmen ständig parallel laufen, ist darin noch keine Mehrstimmigkeit im spezifisch europäischen Sinn zu sehen. Denn parallele Stimmkopplungen gab es in vielen, auch außereuropäischen Musikidiomen, etwa die Paraphonie der päpstlichen Kapelle in Rom, die für das Quintorganum beispielgebend gewesen sein mag.
 
Die zweite Form, das »Quartorganum«, enthält demgegenüber ein neues Element, das als das eigentlich Zukunftsträchtige hier von Interesse ist. Auch das Quartorganum verbindet eine Vox principalis und - in diesem Fall eine Quarte tiefer - eine Vox organalis. Jedoch werden beide nicht von Anfang an parallel geführt, sondern beginnen zunächst im Einklang auf dem gleichen Ton. Wenn die Vox principalis, wie das bei Gesängen der Normalfall war, dann vom Grundton, der »Finalis«, aus allmählich ansteigt, verharrt die Vox organalis weiter auf diesem Grundton, bis zwischen beiden das Intervall einer Quarte erreicht ist. Dann erst laufen beide Stimmen parallel im Viertonabstand, um am Ende einer Zeile, wenn die Vox principalis absteigend zur Finalis zurückkehrt, über enger werdende Intervalle wieder in diesem Grundton zusammenzufinden.
 
Beide gesungene Stimmen haben den gleichen Text, aber sie bilden in Ansätzen eine je individuelle melodische Linie. Die ganze Zeile erhält dadurch - im Unterschied zur gleichförmigen Parallelität des Quintorganums - eine in sich gegliederte Gestalt, eine Binnendifferenzierung nach Anfang, Mitte und Schluss, so wie es später zum Kennzeichen für jedes Werkgebilde europäischer Kunstmusik werden sollte. In der mittelalterlichen Einstimmigkeit, in den Gesängen des Gregorianischen Chorals, war kunstvolle Binnendifferenzierung bereits selbstverständlich. Neu ist hier der Schritt in die Zweistimmigkeit, die gegenüber der einstimmigen Linie den Zusammenklang als das Miteinander von Verschiedenem artikuliert. Das frühe Organum lässt also zeilenweise kleine Werkgebilde entstehen, in denen außer der Horizontalen, der auf und ab steigenden Bewegung von Ober- oder Unterstimme, die Vertikale, hier noch das zweistimmige Intervall (später ist es dann der dreistimmige Akkord), ein neues Gewicht erhält. Dementsprechend sollen die zweistimmigen Gesänge auch langsam vorgetragen werden, sodass jeder Ton beziehungsweise jeder einzelne Klang den Singenden und den Hörenden deutlich wird.
 
Ein bezeichnendes Moment mittelalterlicher Komposition wird bereits an dieser frühen Organum-Lehre deutlich. Komponieren heißt im Mittelalter, zumindest auf dem dominierenden Gebiet der geistlichen Musik, Vorhandenes erweitern, an Gegebenes ansetzen, Einfacheres bereichern und ausschmücken. Die Vox principalis ist ein solches Vorhandenes, ein Stück Liturgie, zum Beispiel ein überlieferter Hymnus. Er behält als solcher seine Form und Funktion, kann weiterhin einstimmig im Gottesdienst verwendet werden und wird nur bei bestimmten Anlässen durch den Zusatz der Vox organalis in einer neuen (besonderen, feierlichen) Gestalt als zweistimmiges Gebilde vorgetragen. Die Technik des An- und Hinzusetzens ist prinzipiell nicht neu, wohl aber ihre Übertragung in die Vertikale. Schon in der Einstimmigkeit gab es Zusätze und Erweiterungen des Gegebenen durch die textliche oder musikalische Tropierung. Dieselbe gestalterische Idee, die etwa bei einem Kyrie- oder Gloria-Tropus zu ergänzenden und kommentierenden Texteinschüben und erweiterten Melodiefassungen führte, steht auch hinter der Ergänzung eines vorgegebenen Gesangs, eines »Cantus prius factus« oder »Cantus firmus«, durch eine neu erfundene zweite Stimme.
 
Das frühe Organum, so ist einschränkend anzumerken, ist im Grunde noch nicht Komposition im eigentlichen Sinne. Denn es existieren nur Beispiele oder Anweisungen innerhalb der Musiklehre, nach welchen Regeln eine zweite Stimme zu einem gegebenen Gesang gebildet werden soll. Das gilt für alle Traktate von der »Musica enchiriadis« bis zum »Micrologus de disciplina artis musicae« (1025) des Guido von Arezzo. Auch bildet die Organum-Lehre immer nur einen kleinen Teil dessen, was diese Abhandlungen insgesamt als Theorie vermitteln wollen.
 
Von etwa 1100 an wird der Weg zu wirklichen Kompositionen deutlicher beschritten. Die überlieferten Schriften lassen zwar für diese Zeit kein lückenloses Bild entstehen. Doch zeichnen sich Tendenzen ab, die man zu Stufen der Organum-Entwicklung zusammenfassen kann. Zunächst wird die Auswahl der möglichen Intervalle erweitert, die Beschränkung also auf Quinte und Quarte aufgehoben. Dann kann das Abstandintervall von Klang zu Klang wechseln. Dadurch wird die hinzugesetzte Stimme in ihrer Bewegungsrichtung unabhängig von dem gegebenen Cantus firmus und erhält eine freiere und selbstständigere Führung. Hier spätestens erscheint eine improvisierende und gleichzeitig an Regeln orientierte Spontanausführung kaum noch möglich, wahrscheinlicher wird dagegen eine vorhergehende, bedachtsam aus den Möglichkeiten auswählende Niederschrift.
 
Eine nächste Stufe bildet die Möglichkeit, Vox principalis und Vox organalis sich kreuzen zu lassen, sodass jede von beiden zeitweilig Ober- oder Unterstimme sein kann. Etwas später rückt die Vox principalis als Cantus firmus generell nach unten, und die hinzugesetzte Vox organalis darf und soll als Oberstimme vom Sänger mit Verzierungen angereichert werden. Dies ist insofern ein neuer, entscheidender Schritt, als damit die parallele Rhythmik, die gleiche Anzahl von Tönen in beiden Stimmen, entfällt und zwei physiognomisch unterschiedliche Stimmen, eine ruhigere Grundstimme und eine beweglichere Oberstimme, miteinander ins Spiel gebracht werden.
 
Die ersten umfangreichen Repertoiresammlungen mehrstimmiger Gesänge des Mittelalters aus der Mitte des 12. Jahrhunderts zeigen die Endstufe dieser Entwicklung. In den über 90 zweistimmigen Liedern aus den Kodizes des Klosters Saint-Martial in Limoges (Südfrankreich) sowie in den etwa 20 zweistimmigen Organa des »Codex Calixtinus« des nordwestspanischen Wallfahrtsortes Santiago de Compostela bleiben die Verzierungen der Oberstimme nicht mehr dem Sänger überlassen. Sie werden aufgeschrieben und damit Teil der Komposition selbst, sogar eines ihrer wesentlichen Bildungselemente. Auf einen Ton der Unterstimme, des Cantus firmus, kommen mehrere, mitunter sogar viele Töne der schwingenden, girlandenhaft schmuckreichen Oberstimmenlinie. So ergibt sich für beide ein kontrastierendes Rollenprinzip innerhalb des gemeinsamen Ganzen. Die Ausführung ist nur so vorzustellen, dass ein Sänger (oder eine Sängergruppe) den Cantus firmus in langsamen Haltetönen vorträgt und ein Solist sich darüber in jubilierender Melismatik frei entfaltet. Die Unterstimme muss hierbei jedes Mal das Ende der Oberstimmenmelismen beachten, ehe sie ihrerseits zum nächsten Ton fortschreitet. Es leuchtet ein, dass der ursprüngliche, textbezogene Rhythmus eines solchen Unterstimmen-Cantus-firmus durch die notwendigen, teilweise langen Dehnungen kaum noch wahrzunehmen ist. Die Unterstimme wird zum Klanggrund, der Text selbst tendiert dazu, sich in tönende Einzelsilben aufzulösen, und die Oberstimme bestimmt die Physiognomie des Stückes. Das ist insofern bemerkenswert, als der eigentliche Sinn des Gregorianischen Chorals, Vermittler des geistlichen Wortes zu sein, hierdurch bis zu einem gewissen Grade aufgehoben erscheint. An die Stelle dessen tritt eine primär musikalische Präsentation, eine Darbietung des Komponierten in seiner besonderen Struktur und Ausdrucksform, möglicherweise sogar verbunden mit einer ausgesprochenen Freude an sängerischer Kunst und Virtuosität.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
 
Apel, Willi: Die Notation der polyphonen Musik, 900—1600. Aus dem Amerikanischen. Leipzig 41989.
 
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 2: Die Musik des Mittelalters, herausgegeben von Hartmut Möller und Rudolf Stephan. Laaber 1991.

Universal-Lexikon. 2012.

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